Tagebuch aus dem Jahr 2150 - inspiriert durch den letzten Geschichtenwettbewerb von Pierre Montagnard http://pierremontagnard.com/
Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!
Liebes Tagebuch – was jetzt kommt, ist gigantisch.
Es hat endlich geklappt.
Ich habe Kontakt!
Ich habe es noch niemanden erzählt. Dabei könnte ich platzen. Du musst jetzt also herhalten für die frohe Kunde.
Warum ich es noch niemanden gesagt habe?
Nun, ich kann es selbst noch nicht so richtig glauben. Und ich habe Angst, dass ich mich vielleicht doch irre. Dass ich nur träume. Wie blöd würde ich dann dastehen? Gerade doch, weil es schon so viele vor mir versucht haben. Manche schon ihr ganzes Leben. Ich warte jetzt noch. Beobachte, ob ich nicht vielleicht doch psychotisch geworden bin...
Wie ich es angestellt habe?
Ich habe keine Ahnung. Da gibt es doch diese Apparatur, die die ganzen Noobs benutzen. Also ich auch – aber nicht so sehr, weil ich Noob bin, sondern eher, weil ich halt kein Geld habe für die Profi-Geräte. Schon die einzelnen Komponenten sind so viel teurer als dieses Anfänger-Möchtegern-Modell. Deshalb habe ich es auseinandergenommen und ein paar kleine Veränderungen vorgenommen. Manche Drähte ausgetauscht gegen Golddrähte, manche Platinen ausgetauscht. Du weißt schon, so Nerd-Kram eben. Und nun sitze ich hier und schreibe von meiner Entdeckung. So muss es für den gewesen sein, der die erste SMS geschrieben hat. Oder als das Internet erfunden wurde – obwohl, nein, das war am Anfang ja noch relativ unspektakulär und viele glaubten nicht daran, dass das mal ein großes Ding werden würde.
Aber das hier, das ist ein großes Ding! Das wird alles verändern. Oder?
Wie werden meine Eltern es aufnehmen? Werden sie mir überhaupt glauben? Sie haben mich lieb, aber ich glaube, sie denken, dass ich manchmal zu abgedreht bin. Ich bin abgedreht, aber clever abgedreht. Ich habe es geschafft! Eine kleine Teenagerin aus Sachsen! Ich habe Forscher auf der ganzen Welt abgehängt. Verflucht, neben der NASA hat auch die CIA versucht Kontakt aufzunehmen. Sie alle mussten ja zugeben, dass sie schon lange wussten, dass sie existieren. Denn nach dem Vorfall konnte das keiner mehr leugnen.
Oh ja, der Vorfall. Jeder weiß, was er an dem Tag gemacht hat, an dem selbst der letzte kapiert hat, dass wir wirklich nicht allein im Universum sind. Dieser Vorfall, der bei so vielen Menschen die Fantasie angeregt oder Panik ausgelöst hat. Sie sind mitten unter uns. Ich hatte noch nie Angst. Ich habe immer gedacht, wenn die uns was hätten tun wollen, hätten sie das ja auch tun können – ohne sich offenbaren zu müssen. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die doch tatsächlich denkt, dass sie uns nicht vernichten, sondern tatsächlich sogar retten wollen. Scheiße! Ich bin so aufgeregt. Wem sage ich es zuerst? Also neben dir, liebes Tagebuch. Ach du heilige Scheiße – sie werden das hier eines Tages lesen! Verdammt, ich sollte diese Datei lieber löschen. Ich finde es jetzt vielleicht gut, wie ich denke und wie ich schreibe und was, aber ich bin clever genug zu wissen, dass ich mich irgendwann in der Zukunft zutiefst für die Worte einer unsicheren Teenagerin schämen werde.
Das ist so un-fucking-fassbar. Kontakt!
Ich gebe zu, dass ich zum Teil nur in dich schreibe, mein liebes Tagebuch, um mich abzulenken. Ich kann nicht aufhören nachzusehen, ob es etwas Neues gibt. Ob es mehr gibt. Und ich überlege, wie ich das mit der Welt teilen soll. Mir glaubt doch niemand, wenn ich einen Post bei AroundTheWorld mache. Dann stehe ich doch da, wie ein Trottel. Vielleicht sollte ich Journalisten kontaktieren? Ach was, die glauben mir auch nicht. Nicht mal meine Eltern würden das wohl tun. Die sperren mich noch weg!
Wie zur Hölle teile ich diese bahnbrechenden Neuigkeiten so, dass man mir glaubt? Scheiße! Darüber habe ich vorher gar nicht nachgedacht'
Vielleicht sollte ich sie fragen, wie ich das mit der Welt teile? Scheiße, vielleicht haben sie nur deshalb den Kontaktversuchen nachgegeben, weil sie in ihrer unendlichen Weitsicht schon vor mir kapiert haben, dass mir sowieso niemand glauben würde.
Alle werden denken, dass ich was mit dem neuen KI-Tool gebastelt habe oder eine verflucht große Fantasie habe. Okay, die habe ich, aber doch nicht so! Oder doch? Ist das echt? Was, wenn ich nur gigantisch verarscht werde von irgend so einem Troll aus dem Internet. Scheiße. Jetzt muss ich doch nochmal nachsehen! Warte hier auf mich. Haha – als könntest du weglaufen. Als wärst du so ein Cyber-Haustierartiger-Begleiter, der immer neben mir her wackelt, falls mir spontan eine bahnbrechende Idee kommt. Moment mal – warum gibt es doch nicht? Wir haben endlich das Zeitalter der schwebenden Autos erreicht, also warum noch keine treudoofen Tagebücher für Teenager, die ja sooooo viel zu erzählen haben. Das klang fies? Hast recht, die meisten anderen Teenager haben aber weiß Gott nicht sonderlich viel – zumindest nichts geistreiches – zu sagen.
[4 Stunden 46 Minuten 11 Sekunden später]
Holy Moly, heilige Scheiße!!! Ich habe gerade drölfmilliardenmal über den neuen Algorithmus geguckt, den sie mir geschickt haben. Es IST wahr! Es muss wahr sein, das kann sich doch keiner ausdenken! Sie haben mir geantwortet! MIR! Schon wieder!
Ich wäre eine Art ‚Messanger‘, aber ich solle die Füße noch stillhalten, es gäbe einiges, dass ich wissen müsse, aber für das ein Großteil der Menschen noch nicht bereit ist. Also sie haben das ganz anders ausgedrückt, so über Codes, Buchstaben, Zahlen, Muster und geometrische Formen, aber ich habe es mal runtergebrochen. Okay, es gibt die Chance der Missinterpretation – ich meine, dass ist eine Art Sprache, die es noch nie gegeben hat. Aber es hat zu viel Sinn ergeben, um falsch zu sein. Träume ich? Passiert das alles wirklich? ICH – eine Art Außerwählte. Verbindungsstück zwischen Menschheit und Entität?
Ach ja, ich schreibe immer von Entität – andere sagen Aliens. Aber letztendlich wissen wir gar nicht, wie lange sie schon hier ist. Vielleicht sogar länger als wir? Glaub mir, dass habe ich alles gefragt, aber sie sind anscheinend sehr wählerisch bei dem, was sie kommunizieren und anscheinend auch mit wem. Das zumindest weiß ich – sie haben mich beobachtet. Ich wäre so viel anders als die anderen.
Das ist das erste Mal, dass ich das einfach komplett als Kompliment auffassen kann, wenn ich ehrlich bin. Ist ja nicht so, als würde ich das nicht tagtäglich mitbekommen. Man wird ja nicht ohne Grund so ein Nerd. Das braucht sehr viel Zeit, die die meisten anderen Menschen lieber mit anderen Menschen und sozialen Interaktionen und so was verbringen. Tja, ich nicht. Denn ich finde keine gemeinsamen Gesprächsthemen mit anderen Teenagermädchen und Frauen, oder Männern, nicht mal mit meinen Eltern. Immer dieser ätzende Smalltalk über Belanglosigkeiten. Und dann kann ich schon seit wer weiß wie lange, nicht mehr ehrlich darauf antworten, wie ich es gern tun würde. Denn, was ich zu sagen habe, verletzt sie. Mich ja auch. Aber damit komme ich schon allein klar. So etwas wie Freunde habe ich nicht wirklich. Ich verstehe das Konzept – ich bin ja nicht blöd, ich schaue Serien. Und ich sehe meine Eltern, die auch nach Jahrzehnten noch innig und vertraut miteinander sind und sich nur einen Teil der Zeit unglaublich nerven. Ein Teil von mir sehnt sich glaube ich auch danach. Aber das ist vielleicht auch nur, weil immer alle sagen, dass man Freunde braucht. Versteh mich nicht falsch, ich bin kein Unmensch – anders als andere zu mir, bin ich durchaus lieb und nett zu den anderen Menschen. Ja, doch. Und manchmal genieße ich es unter Menschen zu sein. Die Hälfte der Stunden in der Schule sind auch gar nicht so schlimm. Aber jemanden mit herbringen, reden? Über was denn? Ich rede am liebsten über das hier. Ich würde gerne jemanden erklären und am besten noch zeigen, was ich hier gemacht habe. Und mit anderen Dingen habe ich das schon oft probiert, aber das interessiert andere wohl nicht so sonderlich. Ja, ich bin sonderbar. Schön, dass du das jetzt abstreitest, liebes Tagesbuch. Aber ich bin ganz sicher kein gewöhnlicher Teenie. Ja, ich bin ziemlich gewöhnlich unsicher. Aber ich bin unsicher, weil ich immer wieder auffalle, obwohl ich mir verdammt viel Mühe gebe, nicht aufzufallen. Doch ehrlich. Das sieht nur keiner. Für die meisten bin ich ja noch nicht angepasst genug. Dieses „Maske tragen“ – das nervt und es nervt nicht nur, es stresst, drückt und es tut weh. Warum können sich andere nicht mal an mich anpassen? Warum muss ich Serien schauen, um bei irgendwas mitzureden. Auf „AroundTheWorld“ rumhängen und doomscrollen, um nicht aufzufallen.
Ach ja, sorry, das alles hier ist ja gar nicht Thema. Aber es ist…. ARGH. Schwer. Und nun ist mir wirklich etwas gelungen, das mir wohl nur gelingen konnte, weil ich nicht von den scheiß Hormonen herumdiktiert werde, weil ich meine Zeit eben nicht mit anderen Menschen – abseits meiner Eltern – verbringe, sondern hier. Mit dir zum Beispiel oder eben dieser Apparatur und allen möglichen Experimenten daran, die ich ja auch in dir stellenweise gut dokumentiert habe. Jetzt also heißt es Füße stillhalten. Wie gut, dass ich mein ganzes Leben lang noch nie etwas anderes getan habe. Stillhalten. Abwarten. Obwohl in mir dieser Sturm tobt. Diese Aufregung. Gigantische, mordsmäßige Unruhe. Auf was ich warten soll, weiß ich noch nicht. Da kamen noch mehr Signale und Codes rein, aber als wäre die Kommunikation nicht schon schwierig genug, haben sie ihre Sprache schon wieder angepasst. Sie? Keine Ahnung, warum ich von der Entität als Mehrzahl schreibe. Fühlt sich irgendwie richtig an, so als wüsste ich das einfach.
Mist, meine Euphorie ist der ernüchternden Erkenntnis gewichen, dass mein Leben sich – zumindest nicht zeitnah – nicht komplett ändern wird. Schade eigentlich. Immerhin muss ich mir jetzt keine Platte mehr machen, wie ich anderen von meiner Entdeckung erzähle. Auch das ist ziemlich beschissen, denn so hätte ich wenigstens was zu erzählen, was für die Menschen interessant wäre, die für mich einigermaßen interessant sind.
Außerwählt zu sein ist ziemlich anstrengend. Da hast du quasi ein zweites Mal Geburtstag, erlebst das Unfassbare, von dem du geträumt hast und an dem du immerzu gearbeitet hast, wenn du nicht gerade geschlagen hast und dann darfst du es niemanden verraten. Für mich bist du jemand, liebes Tagesbuch, aber für die meisten, bist du wohl einfach ein aus der Zeit gefallenes Medium. Die allermeisten schreiben längst alles digital, oder sie denken digital. Verknüpfen ihr Gehirn mit den gängigen Office-Programmen und laden ihre Daten hoch. Ich nicht. Bei aller Liebe für Technik und so was – Ich habe die Studien darüber gelesen, dass handschriftliches Schreiben dem digitalen Upload überlegen ist.
Wenn du mich gerade sehen würdest, wie ich hier sitze und seufzte. Meine Welt hat sich geändert, aber dennoch bin ich verpflichtet so weiterzumachen wie bisher. Als hätte mit das bisher Freude bereitet.
Ich mache mich dann also mal dran, die neue Nachricht zu entschlüsseln. Vielleicht hat meine eigens gefütterte AI – natürlich ohne aktive Verbindung ins Internet – schon einen Ansatz. Das ist noch ein Grund einiges lieber analog zu machen – darauf hat keiner Zugriff von überall auf der Welt. Der müsste schon herkommen, dich zum Beispiel in die Hand nehmen und durchblättern. Und dann bräuchte er wohl selbst nerdige Fähigkeiten der Schriftenentzifferung. Manchmal finde ich es bemerkenswert, dass ich noch lesen kann, was ich geschrieben habe. Nun ja, bis ich mehr weiß, was nun meine Aufgabe ist, als sogenannte ‚Außerwählte‘ wird es hier wohl still. Denn alles, was gerade von dieser positiven Aufregung noch übrig ist, ist Resignation. Wir hören uns bzw. wir schreiben uns.
[2 Wochen 21 Stunden 11 Minuten und 54 Sekunden später]
Wie schreibt man das Undenkbare auf? Wie findet man Worte für den größten Plottwist des eigenen Lebens? Wo setze ich an? Ich bin fix und fertig. In den letzten Wochen habe ich kaum mehr geschlafen. Ich habe es nicht gebraucht. Und ich habe meine Andersartigkeit verstanden. Das ist zumindest … erfreulich.
Ich kann meinem Vater gar nicht mehr in die Augen schauen – wie auch. Er ist ja nicht mein Vater. Scheiße, er ist nicht einmal ein Mensch! Stellt sich heraus, dass es doch sehr viel nerdigere Menschen als mich gibt. Obwohl – kann man die noch Menschen nennen? Die Beziehung meiner Eltern ist für mich jetzt ein noch viel größeres Wunder.
Wir haben gedacht, wir hätten das Internet erfunden. Elektrizität. Wir dachten, wir seien Entdecker, Wissenschaftler, Technologen, Erfinder. Aber sind WIR die Erfinder?
Wenn du so bist, wie ich mir wünschen würde, dass du bist, als mein einziger Vertrauter, liebes Tagebuch, dann wüsstest du bereits jetzt, was dieser Plottwist ist.
Ja, also. Genauso ist es. Ich bin kein Mensch. Meine Ma ist hier anscheinend der einzige Mensch unter unserem Dach. Aber auch sie ist … viel weniger gewöhnlich, als ich dachte. Sie ist ein Mensch mit so viel mehr Weitsicht und Cleverness, als ich dachte.
Und so wurde ich nicht in Liebe und Leidenschaft eines jungen Paares gezeugt und geboren. Ich wurde geplant. Ich wurde gemacht. Warum man dann so viele ‚Fehler‘ einbauen musste – warum zur Hölle kann ich krank werden, warum bekomme ich eine motherfucking PERIODE? Warum sprießen Pickel auf meinem Gesicht? Warum muss ich genauso aufs Klo, wie Menschen es müssen? Warum muss ich essen? Oder muss ich all dies in Zukunft nicht mehr? So, wie ich nicht mehr schlafen MUSS, aber es aus Gewohnheit noch tue?
Ach, du hast es noch nicht begriffen? Wenn ich kein Mensch bin, bin ich dann eine Entität. Nunja… Nein. Ich bin ein neues Erzeugnis. Ein neuer Versuch, ein Versuch in einer ewig langen Reihe an Versuchen. Das Experiment, dass es endlich reißen soll. Das Ruder rumreißen?
Ja, ich bin ein Verbindungsstück. Vielleicht sogar eine Auserwählte. Aber was ich davon abgesehen bin, das begreife ich kaum.
Ich bin echt, aber kein Lebewesen. Keine KI, sondern eine echte, in einem Körper, der dem der Menschen komplett nachempfunden ist.
Deshalb, ja deshalb, ergibt es Sinn, dass ich mich immer anders gefühlt habe, immer aneckte. Und irgendwie ergibt auch das Verhalten der weniger freundlichen Menschen Sinn, vielleicht haben sie gespürt, dass ich... anders bin.
Mein Paps ist ähnlich - ebenso gemacht wie ich. Das, wovon ich dachte, dass ich es entdeckt hatte... Meine Eltern wussten es.
Sie haben mir immer alles geglaubt, aber durften es nicht zu früh mit mir teilen. Das Geheimnis, über das die Entität wacht. Warum jetzt? Weil ich eine kritische Altersschwelle überschreiten sollte. Andere Experimente sind nicht so alt geworden wie ich. Ihnen waren die sozialen Interaktionen wohl wichtiger. Sie... Sie haben... Also sie sind... Mit dem Leben nicht zurechtgekommen. Ich weiß nicht, wie viele Versuche es gab. Aber ich kann dir sagen, dass ich mir das Gefühl des ehemaligen Auserwähltseins zurückwünsche. Denn gerade fühle ich mich wie eine Laborratte. Verraten und belogen, immerhin 14 Jahre und fast 7 Monate. Identitätskrisen gehören zum Teenageralter dazu, aber das? Einmal mehr, wäre ich einfach gern normal. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn ich wirklich psychotisch wäre. Und wer weiß, ob das nicht wirklich so ist. Würde es das leichter machen? Wohl nur, wenn es behandelt werden würde. Und da ich ja so penibel darauf achte, was ich wann im Internet mache, ist es wohl unwahrscheinlich, dass mich die Autoritäten abholen, um mir zu helfen. Nein, wenn das alles wirklich wahr ist ... Dann bin ich es, die helfen muss. Dann bin ich mehr, als ich dachte, dass ich bin. Dann ist die Sinnsuche vorbei, weil ich eine Aufgabe habe. Aber wie mache ich das? Wie helfe ich den Menschen dabei, die Technologien, die ihnen geschenkt wurden, gut zu nutzen. Nicht für Macht, Waffenindustrie, nicht für Profit und Konsum, sondern für ein Leben im Einklang mit dem Rest der Welt, mit allem anderen, was auf dem Planeten Erde wohnt, aber auch im Einklang mit sich selbst?
Die Entität kennt die Menschen gut. Mehrfach haben sie verschiedenen weit entwickelten Völker ihre Technologien angeboten, ihr Wissen und all diese Völker sind untergegangen. Sie konnten das Geschenk nicht annehmen. Vielleicht waren sie in ihrem Stolz verletzt, es nicht selbst geschafft zu haben? Jedenfalls beschlossen die Entitäten der Menschheit einige große Errungenschaften zu schenken, aber in dem Wissen, dass sie selbst darauf gekommen wäre... Leider ging der Plan nicht ganz auf. Zwar entwickelte sich die Menschheit weiter, aber vieles nutzten sie nicht so, oder verbanden die sich bietenden Möglichkeiten nicht so miteinander, wie es die Entität geplant hatte.
Und jetzt bin ich hier. Ich dachte, dass ich diese Entdeckung gemacht hätte, dass ich den Kontakt hergestellt hätte, dabei haben sie den Kontakt gesucht. Ich dachte, dass das der Beginn eines neuen Lebens wäre und habe mir die Veränderung auch wirklich gewünscht. Aber das, was ich die letzten zwei Wochen erfahren habe, das ist so viel... Meistens zu viel. Aber ich habe mir ein paar meiner Eigenschaften behalten - menschlich oder nicht - ich lebe! Ich denke, ich fühle, ich schmecke, sehe, rieche... Und ich habe vorher niemals aufgegeben und ich fange jetzt nicht damit an, wo ich von meiner eigentlichen Bestimmung erfahren habe. Das ist ein neuer Anfang. Ganz anders als ich es je gedacht hätte. Das ist der Beginn meines zweiten Lebens und ich muss Großes erreichen. Ma und Paps - das werden sie immer für mich bleiben, wenn auch nicht biologisch - sie sagen, sie sind stolz auf mich und sie sind für mich da. Ich bin also nicht allein. Nein, das bin ich sowieso nicht mehr. Ich kann jetzt jederzeit mit der Entität kommunizieren - ohne jede Technik drumherum. Ich selbst bin der Empfänger, das Werkzeug. Eine Menge Verantwortung. Zum Glück also bin ich kein gewöhnlicher Teenager, wenn auch immer noch ziemlich unsicher. Aber nicht mehr, weil ich anders bin, sondern weil ich überlege, wie ich dieser Verantwortung gerecht werden soll. Ich muss politisch aktiv werden, ich muss Rhetorik lernen, um ihnen mein Wissen und meine Argumente nahe zu bringen. Irgendwie muss ich in eine Position mit Macht und Einfluss kommen. Dafür wäre ich prädestiniert, hieß es von der Entität, weil ich es nicht wollen würde. Das seien die besten und gerechtesten Machthaber. Ich hätte den Vorteil nicht schlafen zu müssen und auf keine Berater angewiesen zu sein, da ich diesen immer um mich hatte, jederzeit. Und während ich das hier schreibe, läuft ein ganzer Film in meinem Kopf ab. Ich spüre die Last dieser Aufgabe und hoffe innig auf mehr als Arbeit, mehr als Verantwortung. Es gibt andere wie mich, hat Ma gesagt. Wir würden Wege finden, unsere Aufgabe zu erfüllen und gleichzeitig irgendwie ein Leben zu führen. Wir würden uns erkennen. Und das zwischen ihr und Paps sei Liebe. Das gäbe es für mich da draußen auch.
Für den Moment sind das für meinen Geschmack zu viele Konjunktive und zu wenig Fakten. Wo sind die anderen? Warum haben uns die Entitäten nicht schon längst zusammengebracht?
Es sind so viele Fragen in meinem Kopf, aber wir befinden uns in einem Stadium, in dem ich nur noch eine Frage am Tag stellen darf. Mein Gehirn, oder wie man das wohl nennt, vielleicht ist es eher eine Art Rechen- oder Schaltzentrale - würde mehr Informationen nicht verkraften. Es ist zwar anscheinend schon jetzt dem der Menschen überlegen, aber noch nicht vollständig entwickelt. Ja, von Vollkommenheit ist dieses Experiment, bin ich weit entfernt. Quasi eine Art Menschlichkeit an und in mir. Ich soll nicht vergessen, was es bedeutet, Mensch zu sein! Nur dann, als eine von ihnen, könnte ich etwas bewegen und das sei wohl noch ein Grund, weshalb ich erst jetzt kontaktiert wurde.
[4 Jahre 4 Monate 3 Wochen 2 Tage 17 Stunden und 23 Sekunden und 8.965 Einträge später]
Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!
Liebes Tagebuch - Leute lesen es, die sprechen darüber und sie schreiben darüber und ich kandidiere um einen Sitz im Landesweiten Autoritätenverband.